4. Kapitel
Jetzt sitzt du aber ganz schön in der Tinte, dachte Nell und zog eine Grimasse. Sie saß in einem wild schaukelnden Boot mitten im Ärmelkanal mit zwei Babys, auf die sie aufpassen sollte! Und was noch schlimmer war, das Boot schien auf die englische Küste zu zutreiben, genau dorthin also, wohin sie am wenigsten wollte.
Unmöglich! Das war schlimmer, als ... als ... die fauligen Zähne von Katharina der Großen ... oder Napoleons Fußpilz ... oder der Schleim an den Stiefeln von Iwan dem Schrecklichen ... Nell zählte das Ekligste auf, was ihr in den Sinn kam. Da begann eins der Babys zu weinen, und Nell bekam sofort Gewissensbisse. Sie pflasterte ein Lächeln auf ihr Gesicht und begann besänftigend auf die Kleine einzureden. Mit Sicherheit hatte sie Nells Anspannung gespürt.
»Schon gut, Schätzchen, dein Vater wird bald wieder da sein. Dein Bruder weint ja auch nicht, siehst du? Wenn du mir nicht glauben willst, dann glaub wenigstens ihm.«
Aber das Engelsgesichtchen verzerrte sich nur noch mehr, und die Kleine begann wie am Spieß zu schreien. Und ihr Bruder machte Anstalten, sich ihr anzuschließen! Nell versuchte, nicht in Panik zu geraten, aber das war nicht leicht. Was sollte sie jetzt bloß machen? Sie nahm die Babys fester in die Arme und blickte sich um auf der Suche nach etwas, das sich als Spielzeug verwenden ließe. Nichts! Nur die beiden Ruder, die sie sicherheitshalber ins Boot gezogen hatte, damit sie nicht wegtrieben. Was für ein blödes Boot! Es hatte nicht mal Spielzeug an Bord. »Nutzloser Holzhaufen«, brummelte sie böse. Sie blickte erneut ihre beiden kleinen Schützlinge an. »Schon gut! Ist ja schon gut. Wie wär's wenn ich euch eine Geschichte erzähle? Na, wäre das was?« Nicht dass sie eine Antwort erwartete, dafür schienen sie noch zu klein zu sein. Wann fingen Babys eigentlich zu sprechen an? Nell hatte keine Ahnung.
Sie erhob sich wackelig und ging vorsichtig nach vorne zum Bug, wo es eine kleine, dreieckige Sitzbank gab. Dort legte sie die Kinder ab, setzte sich dazu und beugte sich schützend über sie, damit sie nicht ins Wasser rollen konnten.
Überrascht darüber, dass sie abgelegt worden waren, hörten die Kleinen zu weinen auf und schauten sie blinzelnd an. Nell grinste und vergaß einen Augenblick lang die Tatsache, wie knapp sie diesen mörderischen Schurken entkommen war und dass sie nun in einem kleinen Boot schutzlos im Ärmelkanal dümpelte. Sie war einfach nur froh, dass die Kleinen zu schreien aufgehört hatten.
»Na also! Das ist doch schon viel besser, nicht wahr? Kein Grund zum Weinen. Das ist ein Abenteuer! Wenn ihr mal groß seid, könnt ihr es euren Kindern erzählen!«
Nell strahlte noch mehr. Die Kur wirkte auch bei ihr. Es war tatsächlich besser, dies alles als romantisches Abenteuer zu betrachten - obwohl sie ja bestimmt nie heiraten und es daher auch nie ihren Kindern würde erzählen können. Nein, sie konnte und wollte ihren Fluch nicht an ihre Nachkommen weitergeben.
Ein Glucksen zog ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Kinder. Überrascht blickte sie in die süßen Gesichter. Noch ein Gurgeln, gefolgt von vier wedelnden Ärmchen! Lachten sie? Sie lachten ja!
Entzückt beugte sich Nell tiefer über die Kinder und beide griffen automatisch nach den Locken, die sich aus ihrem Haarknoten gelöst hatten. Beide gurgelten lauter, und Nell wurde auf einmal ganz warm ums Herz, trotz des kalten Windes.
»So ist's besser!«, lachte sie. »Kein Grund zur Sorge, stimmt's? Das nützt sowieso nichts. Nein, ganz bestimmt nicht!«
Auf einmal begann das Boot wild zu schaukeln, und Nell wäre fast auf die Kinder gefallen. Was war denn jetzt schon wieder? Grimmig fuhr Nell herum. Zu ihrem Schrecken sah sie einen Arm, der sich über den Bootsrand gehängt hatte, und eine nasse Gestalt, die sich hineinzuhieven versuchte. Nell handelte, ohne weiter nachzudenken. Sie legte die Kinder in den Bauch des Boots, damit sie nicht ins Wasser fallen konnten, packte ein Ruder und hob es drohend in die Höhe.
»Wenn Sie nicht der Vater dieser Kinder sind, dann hauen Sie besser gleich wieder ab, oder ich werde Ihnen den Schädel einschlagen!«
Der triefende Mann zog sich wortlos ins Boot, und Nell holte mit dem Ruder aus. Er wird den Kindern nichts antun!, schwor sie sich, kniff die Augen zu und schwang das Ruder.
»Verdammt noch mal, Frau! Bist du wahnsinnig?« Zwei große Hände hatten das Ruder gerade noch gepackt, bevor es sein Ziel treffen konnte: den Schädel des Eindringlings. Nell zerrte mit einem zornigen Knurren am Ruder. In diesem Moment strich sich die triefende Gestalt das Haar aus dem Gesicht.
Nell atmete auf. »Ach, Sie sind's.«
Er wischte sich wütend das Gesicht ab. »Haben Sie das auch schon gemerkt? Wie scharfsinnig«, sagte er sarkastisch.
Nell stemmte die Hände in die Hüften. »Nun, Sir, ich hatte Sie gewarnt. Sie hätten mir antworten können!« Ihr die Schuld zuzuschieben! Dabei hatte sie bloß die Kinder verteidigen wollen. Die Kinder! Sie fuhr herum und nahm die Kleinen auf die Arme.
»Verzeihung! Tatsächlich war ich noch damit beschäftigt, wieder zu Atem zu kommen, nachdem ich diese lange Distanz geschwommen bin!«, sagte er hinter ihr.
Sie drehte sich wieder zu ihm um. »Woher sollte ich das denn wissen? Wäre es Ihnen lieber gewesen, ich hätte wie ein dummes Schaf dagesessen und gewartet, bis wer weiß wer ins Boot klettert und meine armen Schätzchen ermordet?« Ha! Der würde ihr kein schlechtes Gewissen einreden, egal was er sagte. Sie wusste, dass sie richtig gehandelt hatte.
Er kniff die Augen zusammen, während er sie musterte, und Nell konnte nicht anders, sie musste ihn einfach bewundern. So wie vorhin, als er mit seinen Kindern an der Reling stand. Obwohl er jetzt natürlich tropfnass war.
»Das sind nicht Ihre ›armen Schätzchen‹, Madam«, sagte er stirnrunzelnd und streckte die Arme nach den Kindern aus.
»Mag sein«, stimmte ihm Nell überrascht zu. Hatte sie wirklich »meine« gesagt? Sie musste mehr unter Schock stehen, als sie gedacht hatte. »Aber ich werde sie erst mal trotzdem behalten, denn Vater oder nicht, Sie würden sie im Moment nur fürchterlich nass machen. Sie könnten eine Lungenentzündung bekommen!«
»Mikhail. Mikhail Belanow«, seufzte der Mann, ließ die Arme sinken und nahm auf der Heckbank Platz. »Und ich bin nicht ihr Vater. Ich bin ihr Onkel.«
»Ach.«
Keine besonders intelligente Antwort, aber mehr fiel ihr nicht dazu ein. Hm. Er war also nicht ihr Vater, sondern ihr Onkel. Nun, das änderte nichts, oder? Sie setzte sich erneut auf die Bugplanke, ein Baby auf jedem Arm, und holte erst einmal tief Luft. Was jetzt? Sie musste irgendwie nach Rotterdam kommen und hoffen, dass Tabitha und ihre Eltern noch dort wären. Und bereit, mich wieder in ihre Dienste aufzunehmen, dachte sie grimmig.
»Nun, Mr. Belanow, so unterhaltsam das alles auch gewesen sein mag, jetzt wo die Kinder in Sicherheit sind, muss ich zusehen, dass ich so rasch wie möglich nach Rotterdam komme. Meine Arbeitgeber werden nicht gerade begeistert darüber sein, dass ich ihre Tochter ohne ein Wort auf dem Deck habe stehen lassen.« Erst jetzt merkte Nell, dass Mikhail Belanow ihr überhaupt nicht zuhörte. Er blickte prüfend aufs Meer hinaus.
Wonach hielt er Ausschau? Eine leise Furcht wollte sich erneut in ihr regen. Ob sie verfolgt wurden? Ihr Blick fiel auf die Kinder, sie verengte die Augen und konzentrierte sich. Ihr Atem stockte, doch dann entspannte sie sich wieder. Es war bloß der andere Mann, der, der ihnen bei ihrer Flucht geholfen hatte.
»Er wird bald da sein«, sagte sie ohne zu überlegen.
Mikhail sah sie durchdringend an. Er hatte sie also doch gehört. Verflixt und zugenäht!
»Ihr Freund«, sagte sie rasch, um ihn von ihrem Fehler abzulenken. »Ich sah soeben seinen Kopf. Er schwimmt auf uns zu. Er ist es doch, hoffe ich?« Sie versuchte nervös zu klingen und hoffte inständig, dass der Mann mittlerweile tatsächlich in Sichtweite war. Ihr Blick huschte übers Wasser. Ja, dort hinten war ein Kopf aufgetaucht. Gott sei Dank! Triumphierend wandte sie sich dem schweigenden Mikhail zu.
»Sehen Sie ihn? Dort hinten! Hier, nehmen Sie trotzdem zur Sicherheit das Ruder.«
Er starrte sie noch immer so seltsam an, nahm jedoch das angebotene Ruder.
Als der Schwimmende nur mehr wenige Meter vom Boot entfernt war, hielt er inne. »Ich bin's, Kiril«, rief er.
»Na, das ist mal ein Mann mit Verstand«, bemerkte Nell lobend, doch dann sah sie Mikhails düsteren Gesichtsausdruck, und ihr wurde bewusst, dass sie ihn soeben indirekt als dumm bezeichnet hatte. Sie wollte sich schon entschuldigen, doch da begann eins der Babys zu weinen.
»Starren Sie mich nicht an, als ob Sie mir den Hals umdrehen wollten!«, schalt sie ihn. »Die Kinder spüren die Anspannung, die Sie verbreiten!«
Mikhail wandte sich von der nervtötenden Frau ab und half Kiril ins Boot.
»Ist dir jemand gefolgt?«, fragte er sogleich. Wenn man ihnen auf den Fersen war, mussten sie so schnell wie möglich weiter.
»Nein, dafür habe ich gesorgt«, antwortete Kiril und musterte prüfend die Frau mit den Kindern.
»Es geht ihnen gut«, erklärte Mikhail überflüssigerweise. Es war offensichtlich, wie wohl sich die Kinder am üppigen Busen der schönen, wenn auch enervierenden Fremden fühlten ... Wie hieß sie überhaupt?
»Wie ist Ihr Name?«, fragte er barsch. Er hatte höflicher sein können, das wusste er, aber er war wie zerschlagen vom Kampf und dem anschließenden langen Schwimmen. Diese mörderischen Halunken! Fast wäre es ihnen gelungen, die Kinder zu töten!
Die Frau warf ihm einen Blick zu, dann wandte sie wortlos wieder ihr Gesicht ab. Was zum Teufel...?
»Jetzt hören Sie mal ...«
»Ich muss mich für meinen Freund entschuldigen, Miss. Sie können sich sicher vorstellen, dass die Ereignisse des Tages seine Nerven und seine Manieren strapaziert haben. Aber ich kann Ihnen versichern, wie dankbar wir beide für Ihre rechtzeitige Warnung sind und dass Sie uns geholfen haben, die Kinder zu retten. Sie sind eine wahre Heldin.« Kiril lächelte gewinnend.
Mikhail kam plötzlich der Gedanke, dass er vielleicht ein wenig unhöflich gewesen war. Sie hatte schließlich tatsächlich die Kinder gerettet.
»Ach nein, Mr. Kiril, ich bin keine Heldin. Jedenfalls ist es sonst nicht meine Art, mich in gefährliche Situationen zu begeben. Ich habe einfach nicht nachgedacht ... Es ging alles so schnell. Ach ja, meine Name ist St ... ich meine Nell. Sie können mich Nell nennen.«
Nell lächelte Kiril zu. Aber Mikhail war noch immer nicht überzeugt. Warum hatte sie so gezögert, bevor sie ihren Namen nannte? Warum hatte sie gestottert? Zuvor war sie ja auch so mutig gewesen, hätte ihm beinahe mit einem Ruder den Schädel eingeschlagen! Woher die plötzliche Unsicherheit?
»Nun, Nell, wir danken Ihnen«, sagte Kiril und warf Mikhail einen auffordernden Blick zu, doch dieser schwieg. Irgendetwas stimmte nicht mit dieser Nell.
»Wie kamen Sie überhaupt dazu, uns zu helfen?« Er starrte sie durchdringend an, achtete aufmerksam auf jedes Anzeichen dafür, dass sie log. Und da war es wieder, dieses Zögern. Er war sicher, dass sie gleich die Unwahrheit sagen würde!
»Bei Torquemadas Mundgeruch, Mr. Belanow, Ihre Haltung lässt zu wünschen übrig. Ich habe gerade mein Leben und meinen guten Ruf riskiert, um Ihnen und den Kindern zu helfen, wahrscheinlich auch noch meine Stellung! Es ist also an mir, hier die Fragen zu stellen, wenn Sie nichts dagegen haben! Wer waren diese Männer, warum wollten sie diese armen, unschuldigen Kinder töten, und wie um alles in der Welt geht es jetzt weiter?«
Mikhail starrte sie fassungslos an. Niemand redete so mit ihm, weder Männer und ganz besonders keine Frauen! Die Frauen, die er kannte, lagen ihm sämtlich zu Füßen, klimperten andauernd mit den Wimpern und warfen ihm provokative Blicke zu. Wer war diese Nell, un à woher kam sie?
»Wer ist Torquemada?«, erkundigte sich Kiril auf Russisch bei ihm. Er hatte inzwischen auf der Ruderbank Platz genommen und nach den Rudern gegriffen.
»Der erste Großinquisitor von Spanien. Oberhaupt der heiligen Inquisition. Verantwortlich für den Tod von Tausenden«, erklärte Mikhail zerstreut. Nell wartete noch immer auf eine Antwort, wenn er ihren Gesichtsausdruck korrekt interpretierte.
Er beschloss, sie nicht weiter zu beachten, und trat beiseite, um Kiril zum Rudern Platz zu machen. »Die Strömung ist günstig. Ich übernehme die zweite Schicht. Wir müssten die englische Küste eigentlich in zwei, drei Stunden erreichen.« Der Vampir nickte zustimmend. »Unmöglicher Dickschädel.«
Mikhail wandte sich der brummelnden Nell mit einem sarkastischen Lächeln zu. »Keine Sorge, Miss Nell, wir bringen Sie wohlbehalten nach England zurück.«
»Aber ich will nicht nach England zurück! Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich nach Rotterdam muss!«